V.  Zerwürfnis und Resignation

"Y de qué se queja?"
"Pues quién sabe."
"Debe ser por algo.
Nadie se queja de nada."
   
Juan Rulfo 'Pedro Paramo'

Die Eroberung von Ciudad Juárez durch Pascual Orozco war ein Wendepunkt im militärischen Kampf gegen den Diktator. Die Vertreter der am Kampf Beteiligten schlossen am 21. Mai einen Vertrag, die Tratados de Ciudad Juárez, der für den Moment den bewaffneten Kampf beendete. Porfirio Diaz reiste ab - nach Frankreich ins Exil. Trotzdem bedeutete das noch nicht den Sieg der Revolution. Madero war dafür, mit den Porfiristas zu verhandeln, anstatt das System endgültig zu zerstören. Denn es blieben der porfiristische Kongress, das Gerichtssystem und - am wichtigsten - das Heer.

Während der Zwischenregierung war Leon de Barra Präsident. Er legte den wenigen an der Regierung beteiligten Revolutionären Steine in den Weg. Es gab Schwierigkeiten, die Rebelleneinheiten zu 'pazifieren'. Emiliano Zapata weigerte sich, seine Truppen zu entwaffnen, solange die Rückgabe der Ländereien an die campesinos in Morelos nicht Wirklichkeit geworden war.

Francisco Madero kam am 7. Juni in der Ciudad de México an. Er bereitete sofort die Wahlen vor, die dann im Oktober stattfinden sollten.

Photo links: Triumphaler Einzug von Francisco I. Madero in Mexico-Stadt
Photo rechts: Pascual Orozco, Sr., Eduardo Hay, Pascual Orozco, Jr., Madero,
Abraham Gonzáles und
José de la Luz Blanco während Orozcos
erstem Besuch in der Ciudad de México 
Maderos triumphaler Einzug in Mexiko-Stadt

Im Staate Chihuahua war Abraham Gonzáles im Juni zum Interims-Gouverneur ernannt worden. Zu dieser Zeit lagerte der General Orozco mit seinen Soldaten, es waren so an die 3000 Mann, noch an der Bahnlinie Linea Central.
Am 23. Juni wurde den Truppen befohlen, in die Stadt Chihuahua zu ziehen. Den damaligen Zeitungsberichten zufolge, wurde Pascual Orozco in der Stadt - so wie auch in anderen mexikanischen Städten - begeistert empfangen. Wem schmeichelt das nicht? Einige der späteren Aktionen des so Geehrten können zum Teil auf die Verklärung durch die Volksmassen zurückgeführt werden. Nach dem triumphalen Einzug wurde der General von der vorläufigen Regierung in Mexico-Stadt offiziell zum Kommandanten der rurales im Staate Chihuahua ernannt.

Ende Juni wurde Orozco von dem Club Indepediente Chihuahense Unterstützung zugesagt, wenn er für den Posten des Gouverneurs kandidieren würde. Der Club opponierte gegen den von Madero unterstützten Kandidaten. Orozco nahm an.
Doch die politische 'Maschinerie' war gegen ihn. Madero gab ihm den Ratschlag, nicht zu kandidieren, und man fand heraus, daß ihm einige Monate an dem vorgeschriebenen Alter von 30 Jahren fehlten. Der Druck wurde zu groß, und so zog er schließlich seine Kandidatur zurück. Und damit endete Pascual Orozcos erster und einziger Ausflug in die hohe Politik.

In der Hauptstadt wurde die Frage, wer als Vizepräsident aufgestellt werden solle, zum Streitpunkt und entzweite die Revolutionäre. Denn die Partido Antireeleccionista unterstützte die Nominierung des Francisco Vasquez Gómez, während die neugegründete Partido Constitucionalista Progresista José Maria Pino Suárez vorzog. Dieser war auch Maderos Wunschkandidat, und am Ende folgte die Nominierungs-Konvention dessen Wünschen.

In Chihuahua wurde Abraham Gonzáles am 21. August zum Gouverneur gewählt (er ersetzte den Porfiristen Miguel Ahumada), und in der Ciudad de México fanden am 1.Oktober die Vorwahlen statt.

Pascual Orozco kam einen Tag vor den Wahlen in der Hauptstadt an. Auch hier wurde er vom Volk begeistert empfangen. Doch offizielle Stellen teilten die Begeisterung der Massen für den General nicht. Nach einer Besprechung mit dem Vizepräsidenten Francisco Leon de Barra wurde Orozco urplötzlich zum Kommandanten der rurales in Sinalo ernannt. Schwer zu verstehen, warum er von Chihuahua, wo er sehr populär war, nach Sinaloa wechseln sollte.

Doch Orozco war ohne sein Verschulden mit den Reyistas in Zusammenhang gebracht worden. Der General Bernardo Reyes, ein Ex-Porfirist, war im Juni aus Europa zurückgekehrt und hatte sich sogleich als ein Gegenkandidat zu Madero aufstellen lassen. Auf der Juli-Konvention der Reyistas hatte ein Redner dann ein Loblied auf Orozco gesungen, und die Delegierten verließen daraufhin die Versammlung unter "Viva Orozco"-Rufen. Der General sollte sogar Ehrenmitglied werden, doch er lehnte ab. Reyes war inzwischen in die USA geflohen, von wo aus er eine Konterrevolution plante.

Durch seine Ernennung zum Kommandanten in Sinaloa sollte Orozco von der US-Grenze und aus dem ihm wohlgesonnenen Chihuahua entfernt werden. Orozco nahm die Berufung an. Der Proteststurm in seinem Heimatstaat war gewaltig. Denn die Menschen in Chihuahua glaubten, im Gegensatz zum Präsidenten, daß allein der General mit einer eventuellen Reyista-Revolution fertig werden würde.

Am 6 November 1911 betrat Madero die Abgeordnetenkammer, um sich vereidigen zu lassen. Er wurde "von den revolutionären Anführern Pascual Orozco, Roque González Garza, Francisco Cosio Robelo, Gabriel Hernandez, Cándido Aguilar, Agustin O. Aragón y Arturo Laso de la Vega begleitet."
Doch Maderos politische Macht, sein Prestige und seine Popularität waren schon beträchtlich geschwächt, seine Anhänger geteilt, die Opposition der Porfiristas groß, und die Instabilität im ganzen Lande wuchs.

Während der 15 Monate seiner Regierung sah sich Madero unzähligen Problemen gegenüber: bewaffnete Aufstände, Streiks, Konspirationen und Intrigen. Es gab eine wahre 'Inflation' von Plänen, d.h. Entwürfen, wie alles besser zu machen sei. Die ehemaligen Revolutionäre hingegen sahen mit Mißtrauen, daß die überwiegend porfiristische Bürokratie und das militärische Establishment im Amte blieben. Außerdem besetzte der Präsident die Regierungsposten fast ausschließlich mit Personen, die wie er dem Geldadel entstammten.

Einige Tage vor Maderos Mandat war im Plan de Tacubaya festgeschrieben worden, daß der Plan de San Luis nicht erfüllt worden sei. Die sogenannten Vazquisten schlugen als Präsidenten Emilio Vázquez Gómez vor und behaupteten, daß die Agrarfrage die wesentliche Ursache für die Leiden des Landes sei.

Am 18. November wurde der Plan de Ayala veröffentlicht. Dieser Plan war von Otilio Montaño entworfen worden und wurde dann von Emiliano Zapata und seinen lugartenientes anerkannt und unterschrieben. Auch die Zapatisten sahen in bezug auf die Lösung der Agrarprobleme keine Klarheit und erkannten daher, im Einvernehmen mit dem Plan, die neue Regierung nicht an. Sie ernannten als Jefe de la Revolución Libertadora den General Pascual Orozco "o, en caso de que este no aceptera el delicado puesto le substiuiria el propio Zapata." Das Motto war 'Freiheit, Gerechtigkeit und Gesetz'.

Madero versprach, daß die Comision Agraria Ejecutiva die Aufteilung und Kolonisation der Ländereien durch die entsprechenden Mittel in die Praxis umsetzen würde. Doch Versprechen und tatsächliche Durchführung gehen in Mexico nicht immer konform ...

Am 20. November, nach nur einer Woche in Mazatlan, kehrte Pascual Orozco in die Hauptstadt zurück. Wieder einmal hatte man sich anders entschieden und beorderte ihn erneut nach Chihuahua, damit er dort Kommandant der wichtigen federalen Garnison in Ciudad Juárez wurde.

Inzwischen war Emilio Vásquez Gómez, der sich bitter über eine angeblich ungerechte Behandlung vor den Wahlen beklagte, eifrig bemüht, Anhänger um sich zu scharen. Prompt ging daraufhin das Gerücht um, Orozco sei ein Befürworter der Vasquistas und ihrer geplanten Konterrevolution.

Doch das Gegenteil war der Fall. Anfang Januar schlug Orozco den Aufstand der 'Vasquistas' innerhalb von zwei Wochen nieder. Daraufhin lud Madero ihn nach Mexico-Stadt ein. Der General kam am 19. Januar in der Hauptstadt an und wurde sofort vom Präsidenten empfangen. Jedermann ging davon aus, daß er nach Morelos geschickt werden solle, um Emiliano Zapatas Aufstand - die dritte Anti-Madero-Bewegung - zu zerschlagen.

Während des Gespräches mit dem Präsidenten entstand - höchstwahrscheinlich - ein Zerwürfnis zwischen den beiden Männern. Dem Historiker Juan Alberto Amaya zufolge, soll Madero von Orozco verlangt haben, Druck auf die Chihuahua-Legislative auszuüben. Diese sollte Abraham Gonzáles mit unbeschränkter Macht ausstatten. Orozco soll sich geweigert haben, dies zu tun. Danach war der Bruch zwischen Madero und ihm nicht mehr zu kitten.

Einige Tage danach trat Orozco als Kommandeur der Chihuahua rurales zurück. In seinem Rücktrittsbrief äußerte Orozco sich kritisch über Maderos Kabinett, über den Großteil seiner politischen Ernennungen und über die ungeprüfte Übernahme von Offizieren aus der ehemaligen porfiristischen Armee.

Ein weiterer vermutlicher Grund seines Rücktrittes hängt höchstwahrscheinlich mit der Rebellion der Zapatisten zusammen. Orozco hatte Madero zweimal geholfen Aufstände niederzuschlagen, doch es ist anzunehmen, daß er diesmal, als es gegen Zapata ging, sich weigerte. Obgleich die beiden - soweit bekannt - sich nie getroffen haben, herrschte eine gewisse Sympathie zwischen ihnen, und Zapata hatte Orozco - im Plan de Ayala - als Anführer der Revolución Libertadora vorgesehen. Obgleich Orozco sich sofort von den Reyistas- und Vasquistas-Bewegungen distanziert hatte, hat er in diesem Fall den 3. Artikel des Plans, in dem seine Stellung erwähnt wird, öffentlich nie zurückgewiesen. Außerdem stimmte er mit Emiliano Zapata über die Maßnahmen für eine Agrarreform überein. Zapata hatte Orozco eine Kopie seines Plan de Ayala zugeschickt. Orozco tat später das gleiche mit seinem Plan Orozquista.

Pascual Orozco kehrte schon am 26. Januar wieder nach Chihuahua zurück und reichte kurz darauf seinen Rücktritt ein. "Orozco's decision was the culmination of a long-standing quarrel with Madero's leadership that had begun in the fighting days against Díaz." (Meyer) Er hatte den Zwischenfall mit Madero in Ciudad Juárez nie vollkommen vergessen. Madero weigerte sich, den Rücktritt zu akzeptieren und bat den General, als Anführer der rurales, zumindest bis März zu bleiben, denn er werde noch gebraucht.

Am 31. Januar brach in Ciudad Juárez erneut ein Aufstand der Vasquistas aus. Gebäude wurden in Schutt und Asche gelegt, Läden geplündert. Und wieder wurde Orozcos Name mit einer Konterrevolution in Verbindung gebracht. Weit gefehlt - als Orozco in Chihuahua davon erfuhr, bat er sofort um Verstärkung, um die Ordnung in der Grenzstadt wiederherzustellen.

Am 3. Februar erschien der General in Ciudad Juárez. Sein Einfluß unter den Armeetruppen, die sich dem Aufstand angeschlossen hatten, war noch sehr groß. Daher gelang es ihm, ohne einen Schuß abzufeuern, die Rebellion niederzuschlagen. Orozcos Kritiker hatten stets Schwierigkeiten, dies zu erklären. Denn wenn Orozco wirklich den Aufstand von langer Hand geplant hatte, warum schlug er ihn dann in letzter Minute nieder?

Ende Februar entwickelten sich die Ereignisse sehr schnell. Der Gouverneur von Sonora berichtete, Orozco sei in einen Anti-Madero-Plot verwickelt, dies wurde jedoch vom Staatsministerium sogleich dementiert. Die Vasquistas-Bewegung breitete sich, trotz der Niederlage in Ciudad Juárez, weiter in Chihuahua aus. Der schwache Gouverneur Aureliano Gonzales, der zwischenzeitlich Abraham Gonzáles vertrat, schaffte es nicht, die Odrnung wiederherzustellen.

Madero drängte Orozco, den Posten des Gouverneurs anzunehmen, doch der General weigerte sich. Er wollte dieser Regierung nicht mehr angehören, lieber trat er erneut von seinem militärischen Posten zurück. Und diesmal wurde der Rücktritt angenommen.

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